Der flächendeckende Glasfaserausbau ist ohne Zweifel von herausgehobener Bedeutung für die Digitalisierung von Wirtschaft und Gesellschaft und die Zukunft des ländlichen Raums. Doch hinter den Kulissen und von der Öffentlichkeit nahezu unbemerkt zeichnet sich im Landkreis eine Entwicklung ab, die nicht anders als ein heraufziehender Finanzskandal von beträchtlichen Ausmaßen zu bezeichnen ist. Bis zu 155,4 Mio. EUR aus Steuermitteln sollen an ein privatwirtschaftliches Telekommunikationsunternehmen fließen, das die Glasfaserinfrastruktur nicht etwa im Eigentum des Landkreises errichtet, sondern im Eigentum des Privatunternehmens selbst. Grund dafür ist, dass sich die Breitband Marburg-Biedenkopf GmbH für das dem Gemeinwohl abträgliche Wirtschaftlichkeitslückenmodell entschieden hat.
Die Breitband GmbH bildet eine Zweckgesellschaft in öffentlicher Hand mit dem Ziel des flächendeckenden Breitbandausbaus in der Region. Ihre Anteilseigner (Gesellschafter) sind der Landkreis mit 50 % und die im Landkreis ansässigen Kommunen mit zusammen ebenfalls 50 %. Ein von ihr im Jahr 2021 durchgeführtes Markterkundungsverfahren ergab, dass im Landkreis lediglich für einen Teilausbau in Fronhausen eine verbindliche Zusage für einen eigenwirtschaftlichen Netzausbau durch die Deutsche Glasfaser (eine Holding, die im Besitz des schwedischen Finanzinvestors EQT ist) vorlag. Mithin wurde der Glasfaserausbau in mehr als 99 % der Fläche des Landkreises von allen in Deutschland tätigen Telekommunikationsnetzbetreibern als privatwirtschaftlich nicht rentabel betrachtet. Streng genommen besteht in unserer Region demnach keine Wirtschaftlichkeitslücke, sondern eine Wirtschaftlichkeitswüste. (Ausgenommen von diesem Befund ist das Gebiet der Stadt Marburg, das zugleich nicht Unternehmensgegenstand der Breitband GmbH ist.)
Die Investitionssumme zur Schließung dieser Lücke – alternativ: zur Bewässerung der Wüste – wird auf 155,4 Mio. EUR taxiert. Zum Ausbau dieser sogenannten „grauen Flecken“, in denen Telekommunikationsanbieter einen eigenwirtschaftlichen Ausbau von Internetanschlüssen von mehr als 100 Mbit/s als nicht rentabel betrachten, liegen auch bereits Unterstützungserklärungen öffentlicher Stellen vor: 50 % der Summe sollen aus Fördermitteln des Bundes, weitere 40 % aus solchen des Landes getragen werden. Ein Rest in Höhe von 10 % muss aus Eigenmitteln des Landkreises und der im Landkreis ansässigen Kommunen zugeschossen werden. Für die haushalterisch seit Jahren notorisch klamme Stadt Wetter bedeutet das einen zu finanzierenden Eigenanteil in Höhe von 407.131 EUR.
Das Geld wäre auch gut investiert, hätte sich die Breitband GmbH nicht für das eingangs bereits genannte Wirtschaftlichkeitslückenmodell entschieden. Dieses Fördermodell zur Glasfaserversorgung bedingt laut den Angaben der Bundesregierung, dass Infrastrukturausbau und Netzbetrieb von ein und demselben Unternehmen übernommen werden. Und: „Das geförderte Netz wird im Eigentum des Telekommunikationsunternehmens errichtet.“ (Leitfaden zur Gigabit-Richtlinie, S. 19.) Anders ausgedrückt: Die Kohle wird verschenkt, das Netz mit öffentlichen Geldern im Eigentum eines Privatunternehmens errichtet! Das bestätigt auch der Magistrat der Stadt Wetter auf eine Anfrage der Fraktion DIE LINKE: „Die Breitband Marburg-Biedenkopf GmbH wird keine Eigentümerin des Netzes. Pachteinnahmen oder andere Einnahmen wird es nicht geben.“
Zwar wird die von der Breitband GmbH für Infrastrukturausbau und Netzbetrieb präferierte Deutsche Glasfaser die Investitionssumme in Höhe von 155,4 Mio. EUR vermutlich nicht in Gänze abrufen. Vielmehr dürfte das Telekommunikationsunternehmen ein Interesse daran haben, sich Rosinen herauszupicken, und dort, wo etwa eine größere Bevölkerungsdichte besteht (bspw. in Wetters Kernstadt), den Ausbau eigenwirtschaftlich zu betreiben, um Internetverträge nach eigenen Konditionen zu vermarkten. Das Unternehmen gilt denn auch nicht nur als ein ausgesprochen teurer Internetprovider.
Nach einem Tarifvergleich von Ende März 2022 kostet ein 1.000 Mbit/s-Anschluss für Privatkunden dort regulär 89,99 EUR im Monat, während er bei der Deutschen Telekom für 79,95 EUR und bei 1&1 für 69,99 EUR zu haben ist. Es verfügt darüber hinaus über Potenziale des stillen ökonomischen Zwangs: „Im eigenwirtschaftlichen Bereich der Deutschen Glasfaser wird die Infrastruktur nur bis an das Grundstück gelegt. Es sei denn, die privaten Eigentümer schließen einen entsprechenden Vertrag mit der Deutschen Glasfaser ab. Dann wird der Anschluss bis ins Gebäude gelegt“, heißt es in der bereits benannten Antwort des Magistrats. Sprich: Wer in diesen eigenwirtschaftlichen Zonen keinen Vertrag abschließt, bekommt keinen Anschluss bis ins Gebäude gelegt.
Doch worin bestünde die Alternative? Ganz einfach: Im sogenannten Betreibermodell, das eine Bauleistung für die Errichtung der passiven Netzinfrastruktur und eine anschließende Verpachtung an einen Netzbetreiber vorsieht. Diese nach den Förderbedingungen ebenfalls möglich Option ist eigentlich auch nach der Satzung der Breitband GmbH vorgesehen. Optierte sie für das Betreibermodell, würde das Netz mit einem Kapitalwert von 155,4 Mio. EUR in das Eigentum der GmbH übergehen. Zudem behielt sie die Kontrolle über den Fortgang der Ausbauarbeiten, würde ein Anteil der Investitionen als Einnahmen in der Region durch die mögliche Beauftragung der kommunalen Bauhöfe mit einem Teil der Tiefbauarbeiten verbleiben.
Und last not least: Auf Basis des Betreibermodells würden Pachteinnahmen in beträchtlicher Höhe generiert, die nach ein paar Jahren an die GmbH-Gesellschafter – also auch die Stadt Wetter – ausgeschüttet werden könnten. Dazu folgende Beispielsrechnung: Die Bundesnetzagentur veranschlagt einen Pachtzins von 0,25 EUR pro Meter und Jahr für die Mitnutzung von Leerrohrinfrastruktur durch Telekommunikationsanbieter. (Leitfaden für die Verpachtung und/oder den Verkauf kommunaler Leerrohre, S. 21/22.) Bei einer grob, aber nicht unrealistisch geschätzten Leitungslänge von 10.000 km Glasfaser im Landkreis könnten demnach Einnahmen in Höhe von 2,5 Mio. EUR jährlich erzielt werden.
Dass die Breitband GmbH offenbar unter unzureichender politischer Kontrolle steht, ist ein Problem. Dass sie entgegen eigener Satzung das Betreibermodell zu Lasten des gemeinwohlschädlichen Wirtschaftlichkeitslückenmodells ersetzte, wird zu einem Skandal in dreistelliger Millionenhöhe.
Hinweis:
Am Dienstag, dem 10. Mai 2022, soll in der Stadtverordnetenversammlung Wetter über den Glasfaser-Vollausbau im Landkreis nach dem geschilderten Wirtschaftlichkeitslückenmodell beschieden werden. Unsere Fraktion hat dazu im Vorfeld eine Große Anfrage „Bedingungen des flächendeckenden Glasfaserausbaus im Landkreis Marburg-Biedenkopf“ eingebracht, deren Beantwortung in einer Vorabversion vorliegt. Sobald die offizielle Antwort eingeht, wird sie hier dokumentiert.
Und hier die Antwort:
Antwort des Magistrats auf die Große Anfrage der Fraktion DIE LINKE.